Nominiert für den Deutschen Reporterpreis 2010.
Die
Zähmung der Bestie
Über
das schwierige Verhältnis von Demokratie und Krieg
Von
Dirk Kurbjuweit, Spiegel, 05.07.2010
Die
ersten Demokraten waren Krieger. Im fünften Jahrhundert vor Christus
mussten die Bürger Athens ihre Freiheit ständig verteidigen,
zunächst gegen die Perser, dann gegen die Spartaner. Sie leisteten
ihren Kriegsdienst als Hopliten in der Phalanx oder als Ruderer auf
den Trieren. Damals fiel niemandem ein, dass eine Demokratie sich mit
Kriegen schwerer tun würde als eine andere Staatsform. Die Bürger
Athens und anderer Stadtstaaten töteten und starben für ihre Werte.
Der Historiker Robin Lane Fox schreibt in seinem Buch "Die
klassische Welt", dass genau dies der Vorteil der Griechen war.
Sie kämpften furios, um frei bleiben zu können. Die Perser dagegen
waren Untertanen eines grausamen Königs und nur mäßig motiviert.
Heute
ist die Demokratie die Staatsform, die sich am Schwersten tut mit dem
Krieg. Das gilt sogar für die USA, wo die Regierungen oft leichter
Hand Truppen in Marsch setzen, die Öffentlichkeit aber bald
skeptisch wird. Das ist kein Makel, denn im Krieg geht es immer um
das Sterben und das Verstümmeln von Menschen, und da sind Skrupel
richtig. Am allerschwersten tut sich Deutschland, und auch das ist
vollkommen in Ordnung. Deutschland hat zwei Weltkriege begonnen und
den zweiten als totalen Krieg geführt, als Orgie der Zerstörung und
Selbstzerstörung. Nie wieder Krieg - dieser bundesrepublikanische
Satz ist eine naheliegende Konsequenz.
Doch
dieser Satz wurde von der Realität eingeholt. Die Bundesrepublik ist
seit acht Jahren in einen Krieg verwickelt. Erst hat dies kaum einer
so richtig gemerkt, aber seitdem sich die schlechten Nachrichten aus
Afghanistan häufen, ist eine Debatte um diesen Krieg entbrannt. Zwei
Drittel der Deutschen wollen nicht, dass die Bundeswehr in
Afghanistan bleibt.
Aber
es gibt gute Argumente dafür, dass sie bleibt. Darum geht es jetzt
hier: um die Frage, was es für eine Demokratie heißt, einen Krieg
zu führen, und warum es für die deutsche Demokratie richtig sein
kann, diesen Krieg zu führen. Die Argumente folgen der Chronologie
eines Krieges. Zunächst geht es um den Kriegseintritt, also die
Gründe für einen Krieg, dann geht es um den Verlauf eines Krieges,
also um das Töten und Sterben, dann um die Frage, wann man einen
Krieg beenden kann. Zum Schluss geht es darum, wer über Kriegsbeginn
und -ende entscheiden soll und auf welcher Grundlage.
Der
Beginn:
Terror
und Solidarität
Für
einen Krieg gibt es gute und schlechte Gründe. Wohl niemand würde
bestreiten, dass es gut war, dass Amerikaner, Briten, Kanadier,
Australier und andere gegen das Deutschland der Nazis in den Krieg
gezogen sind. Hätten sie sich pazifistisch verhalten, wäre die
Demokratie in Europa untergegangen, und unser Leben heute sähe
anders aus.
Aber
auch Demokratien haben aus schlechten Gründen Kriege begonnen. Schon
die Athener setzten ihre Waffen ein, um Tribut von anderen Staaten
einfordern zu können. Frankreich und Großbritannien haben aus
wirtschaftlicher Gier Kolonialkriege geführt. Die USA haben den Irak
auch deshalb angegriffen, weil es dort riesige Ölvorkommen gibt. In
Vietnam ging es um Machtfragen im Kampf der Systeme.
In
der kurzen Kriegsgeschichte der Bundesrepublik kommen schlechte
Gründe nicht vor. Die Bundeswehr zog 1993 nach Belet Huen in
Somalia, weil ein Bürgerkrieg das Land in Chaos gestürzt hatte und
eine Hungerkatastrophe drohte. Der Einsatz war ausschließlich
humanitär begründet. Im Krieg gegen Serbien 1999 ging es darum,
einen Völkermord im Kosovo zu verhindern.
Am
11. September 2001 wurde die USA mit entführten Flugzeugen
attackiert, rund 3000 Menschen starben. Dies war die Terrortat eines
kriegerischen Islamismus, der sich durch die westliche Lebensweise
und durch die Freiheiten, die Demokratie und Marktwirtschaft den
Menschen lassen, herausgefordert fühlt. Der Anführer von al-Qaida,
Osama Bin Laden, ließ in seinen Botschaften keinen Zweifel, dass er
diesen Krieg fortführen will. Afghanistan war eine Heimstatt seiner
Terrorgruppe, geduldet und unterstützt vom Regime der Taliban.
Deshalb haben die Amerikaner in Afghanistan eingegriffen.
Wirtschaftliche
Gründe spielten damals keine Rolle. Es ging nicht um das Lithium,
das es in der afghanischen Erde geben soll. Es ging um den Kampf
gegen den Terror.
Der
damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder versprach den Vereinigten
Staaten "uneingeschränkte Solidarität" beim Kampf gegen
den Terrorismus, der auch die deutschen Werte bekämpft. Das war
richtig. Die USA waren angegriffen worden, die USA sind unsere
Verbündeten. Wenn sie einen Krieg aus guten Gründen führen, sollte
die Bundesrepublik ihnen helfen, auch weil sie im Kalten Krieg nur
durch die Hilfe der Amerikaner als Staat überleben konnte.
Es
gab auch kein "Augusterlebnis" wie 1914, keine Begeisterung
für diesen Krieg. Die Politiker haben die Soldaten schweren Herzens
nach Afghanistan geschickt. Nach einem Beginn in Kabul wählte die
Bundeswehr schließlich den relativ sicheren Norden als
Einsatzgebiet. Sie wollte nicht ein neues Heldentum fördern oder
Waffen in großen Schlachten testen. Sie wollte still und möglichst
ohne Kampf einen Beitrag leisten.
Was
den Beginn angeht, ist dieser Krieg gut begründet.
Der
Verlauf:
Bestie
und Opfer
Wenn
es einen anerkannt guten Krieg gibt, dann den Krieg der Alliierten
gegen Nazi-Deutschland. Wenn es einen anerkannt guten Soldaten gibt,
dann den amerikanischen GI, der im Landungsboot die Küsten der
Normandie gestürmt hat, obwohl das Risiko extrem hoch war. Von den
Überlebenden wird erinnert, dass sie Schokolade an deutsche Kinder
verteilt haben.
Der
britische Historiker Antony Beevor hat in seinem jüngsten Buch
enthüllt, dass einige dieser Helden der Demokratie Kriegsverbrecher
waren. Sie haben deutsche Soldaten, die sich ergeben hatten,
niedergemetzelt. Wahrscheinlich sind diese GIs als gute Menschen in
die Landungsboote gestiegen. Aber der Krieg hat die Bestie in ihnen
geweckt.
Ein
Projekt der Demokratie ist die Zähmung dieser Bestie. Schon die
Griechen haben damit begonnen, denn ihre Demokratie war eine Antwort
auf die Willkür grausamer Tyrannen. Sie suchten und fanden ein
Verfahren, wie sich politische Fragen, die immer auch Machtfragen
sind, ohne Gewalt lösen lassen. Im Krieg allerdings war ihnen die
Bestie, die in ihren Seelen weiterschlummerte, nach wie vor
willkommen. Es gab keine humanitäre Rücksicht gegenüber dem
äußeren Feind. Was für den Sieg notwendig schien, wurde getan. Die
Demokratien von heute gehen einen anderen Weg. Ihr Menschenbild hat
sich so verfeinert, dass auch der Gegner von außen, der Feind, nicht
mit äußerster Gewalt bekämpft werden soll. Die Öffentlichkeit zu
Hause, die Heimatfront, verlangt einen anständigen, einen sauberen
Krieg. Sie verlangt Rücksicht auf den Gegner.
Demokratien
versuchen, ohne Hass auszukommen. Anders als man vielleicht vermuten
würde, gehört zum Wesen einer Demokratie nicht die Friedlichkeit,
sondern der Kampf. Alles ist immer umstritten, es gibt keine
Permanenz, keine Einheitlichkeit wie in der Diktatur. Minütlich
bricht ein neuer Streit aus, niemand kann sich seines Amtes sicher
sein. Damit das funktioniert, muss der Kampf zivil sein. Gewalt ist
ein Tabu. Das ist nicht paradox, sondern logisch: Gerade die, die den
permanenten Kampf zur Staatsform gemacht haben, achten empfindlich
darauf, dass fair und gewaltfrei gekämpft wird.
Über
das Christentum, die Aufklärung und einen humanitären
Universalismus hat sich dieses Konzept so vertieft, dass selbst im
Krieg Regeln gewahrt werden sollen. Auch ein Taliban ist nicht nur
Feind, sondern auch Mensch. So sieht man das in den demokratischen
Gesellschaften, und das zu Recht.
Ein
Krieg ist also der permanente Tabubruch. Demokratien versuchen ihn
deshalb so human wie möglich zu gestalten. Weil die deutsche
Öffentlichkeit wegen der beiden Weltkriege besonders empfindlich
ist, hat die Bundeswehr sogar versucht, einen neuen Soldatentypus zu
schaffen: den guten, gutmütigen Krieger, den Mann mit der Rose im
Gewehrlauf, nett, hilfreich, bestienfrei. In den ersten Jahren in
Afghanistan hat sich die Bundeswehr vor allem um den Wiederaufbau des
Landes gekümmert. Die Einsatzregeln waren zum Teil so grotesk
rücksichtsvoll, dass sich die Soldaten schutzlos gefühlt haben.
Auch
die Amerikaner, oft gescholten, versuchen in Afghanistan durchaus
Rücksicht auf die Zivilbevölkerung zu nehmen. Die US-Zeitschrift
"The Atlantic" hat kürzlich berichtet, dass amerikanische
Soldaten bei ihren Operationen die Felder eines bestimmten Bauern
nicht mehr betreten, damit er nicht verärgert ist. Das ist gleichsam
so, als würden bei einem Krieg in Deutschland die Schilder "Das
Betreten des Rasens ist verboten" von Soldaten beachtet, um sich
die Hausmeister gewogen zu halten. So führt nur eine Demokratie
Krieg.
Gleichwohl
ist die Heimatfront immer unzufrieden, immer alarmiert. Das ist
folgerichtig, weil jeder Krieg ein Tabubruch bleibt, egal wie human
man ihn führt. Die Kritik ist allerdings an zwei Punkten ungerecht.
Der
eine Punkt ist die Kritik an der langen Dauer des Krieges. Der
israelische Militärhistoriker Martin van Creveld hat in seinem Buch
"Gesichter des Krieges" zwei Arten des Kampfes gegen
Aufständische beschrieben, die erfolgreich waren. 1982 hat der
syrische Diktator Hafis al-Assad den Widerstand der
Muslimbruderschaft mit bestialischer Härte in kurzer Zeit
niedergeschlagen. Bis zu 25 000 Menschen sollen umgekommen sein,
darunter viele Frauen und Kinder. Damit konnte Assad die Macht seiner
Familie bis heute absichern.
Das
zweite Beispiel ist der Kampf der Briten in Nordirland. Nachdem sie
zunächst brutal vorgegangen waren, haben sie über Jahrzehnte durch
strikte militärische Zurückhaltung die Zustimmung der Bevölkerung
gewonnen, bis die IRA die Sinnlosigkeit ihres Kampfes eingesehen hat.
Für
eine Demokratie gibt es nur die zweite Variante. Die Bestialität
widerspricht dem Menschenbild, auf dem sie aufbaut. Aber für das
zweite Verfahren braucht eine Gesellschaft Geduld. Es dauert, es ist
teuer, es gibt Rückschläge. Der Erfolg ist nicht gewiss, aber
möglich.
Die
andere ungerechte Kritik heißt, der Krieg in Afghanistan sei
schmutzig.
Der
hehre Anspruch einer Demokratie überfordert oft die Soldaten, die
den Krieg führen. Sie können nicht so abgeklärt bleiben wie die
Redner einer Debatte im Bundestag. Ihre Begleiter in den Kämpfen
sind Angst, Blutrausch, Hass, Größenwahn, irgendwann auch Kälte,
Abstumpfung - und all das treibt die Bestie noch immer hervor.
Deshalb kommt es zu Taten, die unerträglich sind.
Weil
der deutsche Oberst Georg Klein das deutsche Camp in Kunduz bedroht
sah, ließ er zwei entführte Tanklaster bombardieren. Er belog die
amerikanischen Piloten, um ihre Bedenken gegen den Einsatz zu
löschen. Bis zu 142 Menschen, darunter viele Zivilisten, starben.
Oberst Klein ist ein Mensch, der in Deutschland wahrscheinlich
niemandem etwas zuleide getan hätte. Aber er war im Krieg, und der
Krieg hat ihn dazu gebracht, diesen fatalen Befehl zu geben.
Deshalb
ist nicht der ganze Krieg schmutzig. So bitter das ist, aber im Chaos
eines Krieges kommt es immer wieder zu Irrtümern und Exzessen mit
schrecklichen Folgen. Man kann nicht darauf vertrauen, dass jeder
Soldat seinen Krieg so führt, wie es für eine Demokratie angemessen
ist. Aber man kann darauf vertrauen, dass der Staat, die
Bundesrepublik Deutschland, diesen Krieg nicht bestialisch oder
schmutzig führen will. Alle Politiker, die maßgeblich für diesen
Einsatz verantwortlich sind, die Bundeskanzler Gerhard Schröder und
Angela Merkel sowie sämtliche Verteidigungsminister, sind zivile,
kriegsscheue Menschen, die mit großen Skrupeln an diese Sache
heran-gehen. Sie wollten und wollen diesen Krieg so führen, wie es
der deutschen Demokratie gemäß ist.
Sie
sind auch nicht Politikertypen, die Menschen leichtfertig in den Tod
schicken. Napoleon hat zu Klemens Wenzel Fürst von Metternich am 26.
Juni 1813 gesagt: "Ich bin in den Feldlagern aufgezogen worden,
ich kenne nichts als das Feld, ein Mensch wie ich scheißt auf das
Leben von einer Million Menschen." Ein größerer Gegensatz zu
Angela Merkel ist nicht denkbar. Aber auch sie nimmt den Tod
deutscher Soldaten in Kauf.
Wahrscheinlich
kennt fast jeder etwas Höheres als das eigene Leben. Viele Eltern
würden sich opfern, um das eigene Kind zu retten. Von den
Leibwächtern wird erwartet, dass sie die Politiker mit ihrem Körper
schützen. Polizisten und Feuerwehrleute setzen sich immer wieder
lebensgefährlichen Situationen aus, um gefährdete Menschen zu
retten.
Das
alles ist nicht umstritten. Wer jedoch sagen würde, es sei
vertretbar, dass deutsche Soldaten ihr Leben für die Staatsräson
der Bundesrepublik geben, löste damit viel Unbehagen aus. Nicht
zufällig hat sich die Debatte um den Krieg in Afghanistan
verschärft, als dort kurz hintereinander sieben Soldaten der
Bundeswehr gefallen sind. Das Gefühl herrscht vor, dass ihr Opfer
vergebens ist, dass ihr Tod keinen Wert hat. Das hat auch mit der
deutschen Vergangenheit zu tun. Die Nazis schickten Millionen
Deutsche in den Tod, der dann als Opfertod gefeiert wurde. Es gibt
seither hierzulande keinen Bedarf mehr an Heroismus. Man braucht ihn
auch nicht.
Traurig
ist etwas anderes. Es gibt in Deutschland kaum noch ein
leidenschaftliches Verhältnis zur Demokratie und zur Freiheit. Für
die Griechen war es ein Vorteil, dass sie als Demokraten in den Kampf
gegen die Perser gezogen sind. Die deutsche Friedensbewegung dagegen
hat den Satz erfunden: Lieber rot als tot. Mit diesem Satz hat der
Pazifismus die Demokratie verraten.
Pazifismus
ist die Haltung einer Minderheit. Aber auch die anderen Deutschen
haben kein pathetisches Verhältnis zur Demokratie und zum Staat, wie
viele Amerikaner oder Franzosen, deren Vorfahren die Freiheit
erkämpft haben. Tod ist aber nur mit Pathos halbwegs zu ertragen,
wie sich an vielen Trauerzeremonien zeigt. Gerade wenn ein jüngerer
Mensch stirbt, muss ein höherer Sinn her, sonst gibt es keinen
Trost.
Es
liegt daher nahe, dass sich die postpathetische, postheroische
Bundesrepublik besonders schwer tut mit dem Tod ihrer Soldaten, zumal
ihre Bürger über Jahrzehnte gewohnt waren, dass ein Soldat ein
Mensch ist, der gebührenfrei einen Lkw-Führerschein machen will und
sich bei Biwaks in der Heide wohl fühlt. Jetzt ist ein Soldat ein
Mensch, der bald in Afghanistan sterben kann.
Der
Tod eines jungen Menschen ist immer eine Katastrophe. Die Frage ist,
ob die Bundesrepublik manchen Bürgern diese Katastrophe zumuten
darf. Die Antwort ist: ja. Auch hier gilt, dass die Bundesrepublik
ein bewährter Staat ist. Bei allen Mängeln macht sie ihren Bürgern
ein vergleichsweise gutes Leben möglich, sie gewährt und sichert
große Freiheiten, sie ist eine funktionierende Demokratie. Die
Bundesrepublik gibt ihren Bürgern so viel, dass sie auch Opfer
mancher ihrer Bürger erwarten darf.
Bislang
sind 43 deutsche Soldaten in Afghanistan ums Leben gekommen. Das ist
eine schrecklich hohe Zahl, aber auch eine unerwartet niedrige.
Welche Nation war schon einmal acht Jahre lang in einen Krieg
verwickelt, ohne Tausende oder Hunderttausende Tote betrauern zu
müssen? Mit Toten Rechnungen anzustellen wirkt immer zynisch, aber
man kann wirklich nicht sagen, dass dieser Krieg einen wahnsinnig
hohen Blutzoll fordert.
Insgesamt
ist also auch der Verlauf dieses Krieges nicht so, dass ein Rückzug
der Bundeswehr notwendig wäre.
Das
Ende:
Ordnung
und Mädchen
Wie
geht ein Krieg zu Ende? Auch das ist eine Frage, die sich einer
Demokratie heute anders stellt als einer anderen Staatsform. Wer
früher ein Land aus ökonomischer Gier überfiel, konnte abziehen,
sobald er genug geraubt hatte oder die militärischen Kosten der
Ausbeutung den Ertrag überstiegen. Das Elend, das zurückblieb, war
den Siegern egal. Sie genossen den neuen Reichtum.
Einer
modernen Demokratie ist das zum Glück nicht möglich. Es gibt kein
"egal", auch nicht, was die Zeit nach dem Krieg angeht. Das
heißt, wer einen Krieg führt, der übernimmt auch die Verantwortung
dafür, was nach dem Krieg geschieht, für die Nachkriegsordnung
also. Leider gelingt es den Demokratien fast nie, in kurzer Frist
eine befriedigende Ordnung herzustellen.
Dem
Ersten Weltkrieg folgte das Regime von Versailles, das in den Zweiten
Weltkrieg mündete. Dem Zweiten Weltkrieg folgte die Spaltung
Europas, die nur für den Westen Freiheit und Wohlstand brachte. Im
Osten ersetzte der Stalinismus die NS-Herrschaft, und es folgte der
Gulag für viele, die Freiheit und Demokratie wollten. Somalia ist
heute kein Staat mehr, sondern eine Heimstatt der Gewalt und des
Elends. In Bosnien-Herzegowina und dem Kosovo herrscht ein prekärer
Frieden, der nur durch die ständige Präsenz äußerer Mächte
erhalten wird.
Das
ist eine traurige Bilanz. Und dennoch war es nur in einem dieser
Fälle ein Fehler, einen Krieg geführt zu haben. Das ist Somalia.
Der Westen überließ die Menschen einem trostlosen Schicksal, als
klar war, dass es äußerst schwierig und verlustreich sein würde,
eine neue Ordnung zu schaffen. Nun terrorisieren Piraten von der
somalischen Küste aus die Handelswege.
In
Bosnien und im Kosovo hat der Kriegseinsatz von Amerikanern und
Europäern immerhin für Ruhe und Ordnung gesorgt. Die Barbarei ist
beendet, keine Blutbäder mehr, keine Massenvergewaltigungen. Beide
Länder gehören zu Europa, und Europa darf es nicht zulassen, dass
Zivilisation und Zivilität von den Rändern her ausfransen. Hier
verbinden sich ein moralisches und ein geopolitisches Argument. Wenn
es anders nicht geht, wird die Bundeswehr noch hundert Jahre dort
bleiben.
Afghanistan
dagegen ist weit weg. Zudem ist das ursprüngliche Argument für
diesen Einsatz brüchig geworden. Niemand weiß, ob man Osama Bin
Ladens dort habhaft werden kann. Der kriegerische Islamismus ist
beweglich genug, um sich andernorts Basen zu schaffen, in Pakistan
oder im Jemen. Doch würde die Nato jetzt abziehen, wären die
Taliban bald wieder an der Macht. Die neue Ordnung wäre die alte.
Der Unterschied: Die Taliban würden regieren, weil der Westen
versagt hat.
Die
Bundeswehr hat die Verantwortung übernommen für die Menschen im
Norden. Es geht ihnen insgesamt recht gut damit. In Kunduz,
Masar-i-Scharif und anderswo gibt es einen normalen,
nichtkriegerischen Alltag. Die Leute gehen ihrer Arbeit nach, Mädchen
können Schulen besuchen. Die Nachrichten von getöteten Soldaten
verdecken, dass es diesen Alltag gibt. Er ist auch ein Erfolg der
Bundeswehr.
Gleichwohl
ist Afghanistan ein Land, das unseren Vorstellungen von einer
Demokratie überhaupt nicht entspricht. Und Korruption ist eine
schlimme Geißel, aber das, was Afghanistan jetzt ist, ist immer noch
besser als das, was es war.
Zurzeit
berichten die Medien groß über tote Soldaten. Sind die Deutschen
erst raus, werden sie über Vergeltung berichten, über Mädchen, die
nicht zur Schule gehen dürfen. Die neue Ordnung Afghanistans dürfte
aus westlicher Sicht schwer erträglich sein. Der Pazifismus ist
keine unschuldige Position. Der unterlassene Krieg kann genauso
verwerflich sein wie der Krieg. Selbstgerechtigkeit kann man sich
also sparen.
Zudem
wird ein Staat Afghanistan, der von den Taliban regiert wird,
wahrscheinlich dafür sorgen wollen, dass auch der Nachbar Pakistan
unter die Herrschaft religiöser Ultras fällt. Da könnte eine
Ordnung entstehen, die für den Westen bedrohlich wird, weil Pakistan
angereichertes Uran und Atomwaffen hat.
Der
kriegerische Islamismus bleibt eine Herausforderung, da darf man sich
nicht täuschen. Wenn die Nato jetzt abzieht, ohne für eine halbwegs
gute Ordnung gesorgt zu haben, hat sie die erste Runde eines
grundlegenden Konflikts verloren. Das wird den anderen Mut machen.
Es
gibt gute Gründe, diesen Krieg noch nicht zu beenden.
Die
Legitimation:
Stimmung
und Verantwortung
Zum
Wesen einer Demokratie gehört auch, dass sie nicht auf Dauer gegen
den Willen der Mehrheit handeln darf. Deshalb könnte es sein, dass
die Regierung die Bundeswehr abziehen muss, obwohl gute Gründe dafür
sprechen, sie noch in Afghanistan zu lassen. Das wäre dann eine
akzeptable Entscheidung. Für eine Demokratie ist die Legitimation
des politischen Handelns durch die Bürger das Wichtigste. Gerade ein
Krieg muss sauber legitimiert sein, weil damit manchen Bürgern die
Bereitschaft zum Tod abverlangt wird.
Angeblich
ist der Krieg in Afghanistan schlecht legitimiert, weil zwei Drittel
der Bundesbürger dagegen sind. Das aber ist der größte Irrtum in
dieser Debatte. Deutschland hat eine repräsentative Demokratie. Die
Politiker stellen sich den Bürgern alle vier Jahre zur Wahl. In der
Zwischenzeit haben sie im Rahmen des Grundgesetzes und der Gesetze
freie Hand. Das ist mit gutem Grund so entschieden worden, damit
nicht Stimmungen das politische Handeln übermäßig bestimmen.
Stimmungen
sind leicht zu beeinflussen und schwer zu messen. Zwar äußern sich
die Deutschen in Umfragen überwiegend skeptisch zu diesem Krieg. Das
motiviert sie aber nicht, in nennenswerter Zahl dagegen zu kämpfen.
Dabei ist die Bundesrepublik eigentlich ein Land der Pazifisten.
Gegen die nukleare Nachrüstung gingen Hunderttausende auf die
Straße, gegen den ersten Irak-Krieg der USA Zehntausende. Nun
sterben deutsche Soldaten in Afghanistan, aber im Land der
Friedensbewegungen gibt es keine Friedensbewegung. Was ist also
wirklich die Stimmung im Land?
Selbst
wenn man es genau wüsste, kann das nicht der Maßstab für die
Politik sein. Angela Merkel wird häufig vorgeworfen, sie richte sich
in ihrer Politik zu sehr nach Umfragen, also Stimmungen in der
Bevölkerung, und das ist ein berechtigter Vorwurf. In Sachen
Afghanistan tut sie das nicht, sie regiert gegen die angebliche
Stimmung im Volk. Das aber soll auch falsch sein. Da stimmt die
Argumentation nicht.
Jeder
vernünftige Mensch ist grundsätzlich skeptisch gegenüber dem
Krieg, auch Angela Merkel. Aber sie kann es nicht nur schrecklich
finden, dass deutsche Soldaten sterben. Sie findet das sicherlich
auch schrecklich, aber sie muss sich fragen, ob sie diese Opfer nicht
in Kauf zu nehmen hat. Ein Politiker bewegt sich da im Bereich
furchtbarer Kalküle. Der Schutz der Bürger gehört zu seinen
wichtigsten Aufgaben. Aber er muss auch die Weltlage berücksichtigen,
die deutschen Interessen und das Verhältnis zu den Verbündeten, in
diesem Fall vor allem zu den Vereinigten Staaten. Er kann dann zu dem
Schluss kommen, dass 43 tote Deutsche der Preis sind, den die
Bundesrepublik zu zahlen hat, vielleicht auch 100 oder 200. Und warum
vielleicht noch 200, aber nicht mehr 300?
Niemand
möchte solche Kalküle anstellen müssen. Aber sie sind notwendig,
solange nicht Immanuel Kants ewiger Friede herrscht. Sogar ein
Pazifist macht mindestens unbewusst eine solche Rechnung auf. Oder
warum meldet er sich bei 43 Toten zu Wort, nicht aber bei einem oder
fünf? Doch nur Politiker müssen solche Gedanken bis zur letzten
Konsequenz denken. Sie müssen entscheiden, sie tragen die
Verantwortung. Repräsentative Demokratie heißt eben auch, dass man
die folgenschweren Entscheidungen den Politikern überlässt. Nur sie
bringen die professionelle Kühle auf, die notwendig ist. Diese
Entscheidungen müssen sie dann der Bevölkerung erklären.
Leider
aber wurde der Einsatz in Afghanistan lange beschwiegen. Der Krieg
sollte aus dem Bewusstsein der Bürger verschwinden. Rund um den
fatalen Befehl von Oberst Klein wurde sogar vertuscht und gelogen. Es
war auch ein Fehler, dass Afghanistan im Wahlkampf 2009 keine Rolle
gespielt hat. Die Parteien, die sich für diesen Einsatz entschieden
haben, wollten sich im Wahlkampf nicht dazu bekennen. Union, SPD und
FDP schwiegen zum Krieg, weil sie Angst hatten, ein klares Bekenntnis
könnte Stimmen kosten. Auch viele Medien hielten es für richtig,
dass Afghanistan im Wahlkampf nicht vorkommt. Das war ein Fehler,
muss man selbstkritisch sagen. Die Legitimation des Krieges hat hier
eine Schwäche.
Ein
Argument für das Schweigen im Wahlkampf war, dass die deutschen
Soldaten in Afghanistan von einer Debatte verunsichert werden
könnten. Aber das ist ein schlechtes Argument. Die Bundeswehr ist
die Armee einer Demokratie, und das Wesensmerkmal einer Demokratie
ist nicht die Einhelligkeit, sondern der Streit. Alles ist
umstritten, alles wird erstritten. Das Thema Krieg kann davon nicht
ausgenommen werden. Die Soldaten, Staatsbürger in Uniform, müssen
das ertragen.
Und
die Politiker müssen sich trauen. Nach den jüngsten Angriffen auf
die Bundeswehr hat sich Angela Merkel klar zu diesem Einsatz bekannt,
spät, aber immerhin. Auch im Wahlkampf 2013 sollte sie das nicht
verstecken. Bis dahin muss auch die SPD eine klare Haltung finden.
Dann können die Bürger das Thema Afghanistan in ihre Entscheidung
prominent aufnehmen und dem Krieg eine klare Legitimation geben oder
eben nicht. Bis dahin muss ständig diskutiert werden, und nicht
immer nur dann, wenn es Tote gibt.
Zurück |